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Dienstag, 6. Oktober 2015
Wenn es kein Theater mehr gäbe

Beitrag aus: Literatur-Blog, 12.12.2014,
http://blogs.zentralplus.ch/de/blogs/literaturblog/2660700/

Wenn jemand fragt:
Wäre es denn schlimm
Wenn es kein Theater mehr gäbe
Dann antworte ich in der Regel: Nein
Für Sie wäre es nicht schlimm
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Obwohl, auch insgesamt:
Wirklich brauchen tut
Der Mensch
Theater nicht

Er braucht, in unseren Breitengraden
Ein Dach über dem Kopf
Nahrung, Wasser, Feuer, Luft

Wenn er all dies hat…
Kann er kopulieren, sich vermehren
Seinen Lebenszweck erfüllen
Der da heisst: Aufzucht der Brut

Theater also ist Luxus
Genauso wie eine Zimmerpflanze oder
Ein Fussball, Dampfschiff
Verrichtungsboxe, Sitzgelegenheit
Globi, Rohner-Wandersocke
Black and Decker Bohrmaschine
Kuhglocke, FlipFlop, Deodorant etc …

Nur ist Theater natürlich kein Ding
Und trotzdem Luxus – für den Geist
Und dies im Wortsinn von «Luxus»
Im Sinn von: «Üppige Fruchtbarkeit»

Wie schön!

Zu einer Zeit und in einer Welt
Da alle, ich meine wirklich alle, wissen
Wer Conchita Wurst ist
Der/die dann auftritt:
Auf der Esplanade Solidarność
Vor dem Parlamentsgebäude in Brüssel
Denn er/sie sei – Zitat:
«Ein grossartiges Zeichen für
Offenheit und gegen Diskriminierung
Für ein Leben und Lieben ohne Angst»
Wie es heisst
In einer Mitteilung aus Brüssel

Worte sind schnell gesprochen

Wenn Weihnachten kommt
Steht vor der Migros
Ein Weihnachtsmann, der ruft:
«Ho-ho-ho, chömmed doch i d’Mi-i-gros»
Die Cablecom wirbt mit dem Slogan:
«So gratis haben Sie noch nie telefoniert»
Und im Bus fragt einer einen anderen:
«Isch diin Fründin Schwiizeri?»
Und der andere sagt: «Nei, Secondo
Vater chunnd vo Tessin»

Derweil Siri, die Dame in meinem iPad
Wenn ich sie nach dem Sinn
Des Lebens frage; zurückfragt:
«Soll ich im Internet nachschauen?»

Dank Facebook erfahre ich
Wer was zum Frühstück isst
Wer was zum Abendessen kocht
40 Friends liken die Information
Manchmal auch 80
Und einige schreiben:
«Mmh, g’sehd fein uus», Ausrufezeichen

Am nächsten Tag erhalte ich
Via Facebook den Werbebanner
Von «mymueslischweiz.ch»
Und wenn ich kurz mal google
Was denn eigentlich der Unterschied ist
Zwischen Arthrose und Arthritis
Erscheint auf meinem Bildschirm zeitgleich
Der Werbebanner von Finitro Forte Plus

Derweil die Politik sagt
Sie habe alles im Griff
Und noch einmal verlauten lässt:
Conchita Wurst
Sei ein grossartiges Zeichen
Für ein Leben und Lieben ohne Angst
Und natürlich:
Für Offenheit und gegen Diskriminierung

Im Mittelmeer fahren die Kreuzfahrtschiffe
An den Booten der Bootsflüchtlinge vorbei
Und so mancher Kreuzfahrtschiffpassagier
Zückt dann sein Handy und macht ein Bild
Von den Booten, stimmungsvoll
Im Licht der untergehenden Sonne

Ich könnte jetzt endlos so weitermachen
Aber das geht ja nicht
Es ginge einfach immer endlos so weiter

Was ich sagen will
Und schon gesagt habe:
Worte sind schnell gesprochen
Und werden immer schneller gesprochen

Darum braucht es das Theater noch mehr
Als es das Theater je gebraucht hat

Theater ist Sprache

Ist Inhalt

Theater ist ein geschützter Raum

Ein Ort der Gesellschaft

Und vor allem: ein Ort der Reflexion

Oder, auf eine Formel gebracht:

Theater ist
Ein geschützter Sprachraum
Der gesellschaftlichen Reflexion

Und, in Klammern: Seit der Journalismus
Als Reflexionsmedium
Zunehmend versagt
Aus welchen Gründen auch immer
Unter anderem:
Weil das lesende Publikum
Zunehmend davon ausgeht
Dass Informationen gratis
Wenn nicht noch gratiser
Oder gar am gratisten zu haben sind
Und auch:
Weil auf den Redaktionen der
Am-gratisten-Medien
Zunehmend
Kindersoldaten beschäftigt werden
Die schiessen lernen im Halbstundentakt
Und dann so Sätze abfeuern wie:
«Die Katastrophen mehren und häufen sich»
Oder:
«Abzockerlöhne, Doppelpunkt
Roche geht mit gutem Beispiel voran»
Eben:
Seit der Journalismus
Als Reflexionsmedium
Zunehmend versagt:

Ist das Theater
Zunehmend der einzige Ort

Der gesellschaftlichen Reflexion

Klammer geschlossen

Im Theater lernt man sich selber
Besser verstehen
Zumindest:
Jedesmal ein ganz klein wenig besser
Und auch die Menschen
Das Lieben
Das Leiden
Das Leben
Die Welt
Wohlwissend, dass man sich selber
Die Menschen
Das Lieben, das Leiden, das Leben, die Welt
Nie wirklich verstehen wird
Aber doch immerhin:
Jedesmal ein ganz klein wenig besser
Denn: Sein, das verstanden werden kann
Ist Sprache

Und obwohl auch Theaterworte
Manchmal schnell gesprochen werden
So sind sie doch nie dahingesagt
Jedes einzelne Wort und
Selbst jedes schnell gesprochene
Hat im Theater immer
Eine unmittelbare Wirkung
Also: eine sichtbare Bedeutung

Oder anders:
Es gibt im Theater jede Sekunde
Eine Ursache: das Wort
Und jede Sekunde hat das Wort
Eine Wirkung
Löst eine Reaktion aus
Oder eine Nicht-Reaktion
Was ebenfalls seine Bedeutung hat

Im Theater wird sekündlich und in Echtzeit
Bewiesen und vor allem daran erinnert
Was in unserem Alltag
Dem so lauten und so geschwätzigen
Fiebrig dahin- und daherplappernden
Und ständig zwitschernden …
Was in diesem Alltag
So leicht vergessen geht:
Dass jedes Wort Wirkung hat
Dass das Wort niemals abperlen kann:
Wie das Wasser am Bürzel des Erpels

Übrigens: Auch jedes nichtgesagte Wort
Oder sogar das grosse Schweigen
Hat im Theater immer Wirkung
Und also immer Bedeutung

(Zumindest in jenem Theater
Das mir am Herzen liegt)

Ein Wort kann:
Verletzen, erniedrigen, erfreuen, zerstören
Besänftigen, beschönigen
Ein Lachen auslösen
Einen Zweifel säen …
Ein Wort kann töten
Oder die Liebe erklären

Sprache ist mächtig, wir wissen es
Mächtiger als das Schwert
Jeder Krieg wird mit Worten gerechtfertigt
Und ohne Worte gibt es keinen Frieden

Theater ist ein Ort
Dieser mächtigen Sprache
Und manchmal auch
Ein Ort des beredten Schweigens
So oder so ist Theater immer
Ein Ort der Reflexion

Und darum wäre es schlimm
Wenn es kein Theater mehr gäbe
Übrigens schlimm auch für jene
Für die es nicht schlimm wäre

Denn auch sie leben in einer Zeit
Da Siri
Nach dem Sinn des Lebens gefragt
Sich anerbietet
Im Internet nachzuschauen
Oder:
Da Conchita Wurst
Im Auftrag der Regierenden Europas
Zum Volke singt
Auf der Esplanade Solidarność

Auch so ein Wort
Das Bedeutung
Und Wirkung
… hatte

Gast-Autorin Gisela Widmer hielt diese Rede Mitte November 2014 im Kleintheater Luzern anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums der «Werkstatt für Theater» von Livio Andreina (Regisseur) und Anna Maria Glaudemans (Ausstatterin).

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