Der Jazz-Pianist Keith Jarrett blickt zurück. In einem seiner seltenen Interviews spricht er mit ZEIT-Redakteur Konrad Heidkamp über seine rätselhafte Krankheit, Mozart und die Zukunft der Ekstase
DIE ZEIT:
Seit Ende 1996 haben Sie Ihre Konzertauftritte drastisch eingeschränkt und keine Jazzaufnahmen eingespielt. Bedeutet Ihr Soloalbum The Melody At Night, With You nun einen Neubeginn, oder ist es ein Rückblick auf die letzten drei Jahre?
KEITH JARRETT:
Die Musik dieser CD entstand in meinem kleinen Privatstudio. Ich war allein, ohne Toningenieur. Die Stücke waren als Weihnachtsgeschenk für meine Frau geplant. An eine Veröffentlichung dachte ich überhaupt nicht. Der Flügel sollte überarbeitet, die Hämmer mussten ausgewechselt werden. Als ich dann das Instrument testete, stellte ich ab und zu die Mikrofone an. Virtuos konnte ich nicht spielen, dazu war ich zu krank, ich schuf aber diese entspannte Nocturne -Stimmung, sodass ich mich schließlich entschloss, die Mikrofone immer einzuschalten. Ich fühlte mich ziemlich schwach, deshalb dauerten die "Aufnahmen" ein paar Wochen, bis ich etwa 40 Stücke zusammenhatte. Daraus wählte ich dann die besten aus.
JARRETT:
Ich wollte mich ausschließlich auf die Melodien konzentrieren. Ich bin sicher, viele Jazzkritiker werden diese Aufnahmen langweilig finden: Harmonisch passiert da ja überhaupt nichts. Aber wenn du deine Aufmerksamkeit auf die Melodie richtest, erübrigen sich die harmonischen Geläufigkeiten ohnehin von selbst. Wenn ich also merkte, dass ich komplizierter werde, habe ich sofort aufgehört. Mir ging es darum, mit dem Flügel die Stimme zu imitieren. Das ist unglaublich schwer, denn das Klavier singt nicht. Es macht nur: Boing! Man kann sich zwar bemühen, es zum Singen zu bringen, aber es bleibt immer begrenzter als die Stimme.
ZEIT:
Sie leiden an einer Krankheit, die sich Chronisches Erschöpfungssyndrom nennt, einer Krankheit, die dem Betroffenen selbst alltägliche Verrichtungen unendlich schwer macht, die alle Energie verbraucht. Ist diese Krankheit organisch oder psychisch bedingt?
JARRETT:
Es gibt viele Theorien dazu. Aber keine ist bewiesen. Und keine davon verspricht, die Krankheit zu heilen. Außer der Methode, die ich jetzt verfolge. Aber ich zweifle auch daran, bis ich den Erfolg sehe. Die Krankheit erstreckt sich auf alle Bereiche: mental, physisch, das Nervensystem, die Muskeln, Augen, Haut ... Was mir am schwersten fällt, ist Sprechen. Schwerer als Klavierspielen, schwerer als Gehen. Inzwischen ist alles anders. Als ich mich das erste Mal nach Ausbruch der Krankheit ans Klavier setzte, konnte ich keine Verbindung zwischen Kopf und Händen herstellen. Ich war unfähig, Entscheidungen zu treffen.
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ZEIT:
Es ist bekannt, dass Sie vor Ihren Solokonzerten versuchen, absolute Leere in sich zu erzeugen, um aus dem Augenblick heraus zu spielen. Kann Ihre Krankheit auch durch diese extremen Belastungen ausgelöst worden sein?
JARRETT:
Keine Ahnung, wie stark das durchschlug. Bei vielen Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, gab es ähnliche Ausgangslagen: Sie waren hyperaktiv, hatten fünf Jobs, sechs Kinder, jede Menge Stress, und plötzlich bekamen sie eine Infektion. Niemand, der ständig vor dem Fernsehapparat hängt, hat diese Krankheit jemals bekommen. Ich war dafür berühmt, mich zum Äußersten zu zwingen. Ein Teil meines Publikums kam vor allem, weil es diesen hohen Anspruch erwartete. Sogar wenn ich versagte, hatte ich alles gegeben. So gesehen, bezahle ich jetzt dafür. Meine Solokonzerte waren einfach verrückt. Es ist, als ob man aus sich heraustritt und sämtliche Organe sich verabschieden. Das würde ich wahrscheinlich nicht noch einmal machen. Ich glaube es nicht.
JARRETT:
Vielleicht. Ich hatte meinen Studenten immer gesagt: Spielt, als wäre es das letzte Mal. Als ich dann vor drei Jahren krank wurde, hatte ich wirklich das Gefühl, das letzte Mal zu spielen. Es war, als ob jemand einen Knopf drückt und dein Leben auf null zurückspringt. Und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es dort bleiben wird. Während dieser langen Pause hörte ich mir meine alten Aufnahmen an, und vieles davon gefiel mir überhaupt nicht mehr. Warum hab ich das gemacht, warum zum Teufel hab ich diese Note gespielt? Warum ist diese Einleitung so lang? Ist das alles, was ich der Welt hinterlasse? Aber, um zum Positiven zu kommen: Wenn ich jetzt spiele, will ich keine Zeit vergeuden oder meine Kraft an irgendeine Note verschwenden, denn meine Energien sind begrenzt. Man kann mit sehr wenig Noten wunderbare Musik machen. Bevor ich krank wurde, spielte ich, als wäre ich verzweifelt. Aber wenn es dein letzter Tanz ist, dann willst du einfach, dass es dein schönster wird. Das ist keine Verzweiflung, sondern irgendwie: Wundervoll, ich habe noch eine Chance. Eine mehr, als ich dachte.
ZEIT:
Sie wechselten in den letzten fünfzehn Jahren zwischen Solokonzerten, klassischer Musik und den Standardinterpretationen. Für wen sind Grenzwechsel schwieriger, für den Jazzmusiker oder den klassisch ausgebildeten Interpreten?
JARRETT:
Ich denke, für einen Jazzmusiker ist es einfacher, klassische Musik - schlecht - zu interpretieren, als für einen klassischen Musiker - überhaupt irgendeine Form von - Jazz zu spielen. Aber beides ist gefährlich. Friedrich Gulda ist ein gutes Beispiel, und es gibt andere waghalsige Fälle von cross over. Immerhin ist sich Friedrich dessen bewusst -, und er liebt den Jazz. Die Ergebnisse sind allerdings eine andere Sache. Aber natürlich denken die Leute dasselbe über meine Interpretationen klassischer Musik.
ZEIT:
Können Sie sich vorstellen, ohne Musik zu leben?
JARRETT:
Während der ersten eineinhalb Jahre meiner Krankheit konnte ich es mir gut vorstellen. Ich hatte nicht einmal Lust, Musik zu hören, eine Zeit lang hasste ich sie förmlich. Obwohl "hassen"nicht der richtige Audruck ist. Ich fragte mich: Was ist das? Mein ganzes Leben hatte ich Musik gespielt. Und jetzt wusste ich nicht einmal, was das ist - Musik? Es ist nicht so schwer, auf Musik zu verzichten. Wenn sie weg ist, ist sie eben weg. Bye bye! John Cage spielte Klavier, bekam dann Athritis, hörte auf, wurde Schriftsteller, schließlich komponierte er seine Philosophie.
ZEIT:
Sie könnten sich darauf konzentrieren zu komponieren.
JARRETT:
Mit dieser Krankheit kann man nicht kreativ sein. Man kann nicht einfach seinen Willen dazu benützen und etwas erzwingen. In Amerika sagt man: Get over it. Try harder. Das funktioniert oft. In diesem Fall aber frisst die Krankheit genau die Energie, die du dir wünschst. Es sind parasitäre Bakterien.
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ZEIT:
Auf Ihrer neuen CD spielen Sie wieder Standards. Während sich im Jazz eine erhebliche Erweiterung des Repertoires feststellen lässt, ob durch Klezmer oder Soundtracks, klassische Musik oder Weltmusik, beschränken Sie sich seit 15 Jahren auf Standards aus den dreißiger und vierziger Jahren. Warum?
JARRETT:
Warum nicht? Einen klassischen indischen Musiker würden Sie doch auch nicht fragen, warum er immer Ragas spielt. Oder nehmen Sie Mozart! "Warum klingen Ihre Lieder immer so ähnlich, Wolfgang? Immer diese Skalen! Man könnte doch mehr auf dem Flügel ausprobieren als immer nur diese Mittellagen!" Standards sind die beste Musik Amerikas, und sie sind in einer Sprache komponiert, die wir alle kennen und durch die wir uns ausdrücken können. Und das machen Jazzmusiker ihr Leben lang.
JARRETT:
Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich irgendein Popsong berührt hat seit ... ich führe kein Tagebuch darüber. Wenn ich irgendetwas höre, das ich mag, und sei es gestern geschrieben, würde ich es sofort verwenden. Aber wenn Sie in einem Konzert einen Standard aus der vierziger Jahren nehmen und danach ein Ornette-Coleman-Stück oder eines von Cyndi Lauper, dann verlieren Sie Ihre Sprache. Im Bebop spielt man als Pianist ganz bestimmte Figuren mit der linken Hand, wenn man dann zu einem Standard wechselt - das ist schwierig. Weil ich plötzlich daran denken muss, meine linke Hand umzustellen. Und eigentlich wollte ich mich doch mehr und mehr in die Sprache versenken, in der ich das Konzert begonnen hatte.
ZEIT:
Heißt das, Sie passen Ihre Sprache immer dem jeweiligen Material an und verfügen über keine eigene Sprache?
JARRETT:
Hatte Miles Davis eine eigene Sprache? Er hatte seinen eigenen Sound. Die Texturen der Songs überließ er seiner Band. Sie befreite ihn davon. Also konnte er darüber improvisieren. Außerdem wollte Miles hip sein. Mir ist es egal, ob mich jemand für hip hält.
ZEIT:
War es Ihnen nie wichtig, hip zu sein, auch nicht in Ihrer Jugend? Ich denke dabei an die Zeit, als Sie bei Charles Lloyd spielten, an die Platten mit den psychedelischen Covern.
JARRETT:
Nein, das war nicht hip, das war dämlich. Und schlechter Geschmack außerdem. Sicher, als ich jung war, fand ich alles aufregend, auch Kleidung. Charles wollte uns immer in einem bestimmten Outfit sehen. Einmal schickte er uns sogar ins Hotelzimmer zurück, weil wir die falschen Klamotten anhatten. Ich finde: Man kann nach innen hip sein oder nach außen. Standards sind große amerikanische Popmusik. Besser als Pop. Wir leben diese Musik, die andere lässt mich kalt.
ZEIT:
Sie hatten sich vor ein paar Jahren öffentlich mit Wynton Marsalis, seinem Musik-Kanon und den Traditionalisten seiner "Jazz-Schule" angelegt. Hat sich inzwischen etwas an Ihrer Position verändert?
JARRETT:
Wynton Marsalis spielt noch immer den großen Lehrer. Diese Schulsituation wird immer dominierender. Ich habe nichts gegen Traditionalismus als Kategorie. Was aber Marsalis in die Welt gesetzt hat, ist das Gegenteil von Jazz. Er belehrt die Welt darüber, was Jazz zu sein hat. Und der normale Leser und Hörer weiß es nicht besser. Außerdem kann man nicht gleichzeitig Lehrer und Musiker sein. Wenn du Lehrer bist, musst du das vormachen und nachahmen, was andere vor dir gespielt haben. Und wenn du das tust, verlierst du die Beziehung zu deiner eigenen Musik.
ZEIT:
Gab es für Sie Vorbilder, denen Sie nacheifern wollten?
JARRETT:
Als ich 14 oder 15 war, kam zum ersten Mal ein Weltklassepianist nach Allentown, meiner Geburtsstadt - Dave Brubeck. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Das kann es nicht gewesen sein. Als mir später jemand in Berkeley sagte, dass ich wie Oscar Peterson klinge - ich mochte seine Musik, wusste aber auch, dass sie nichts mit mir zu tun hatte -, war mir klar, dass ich niemanden imitieren wollte. Jemand anderes sagte mir in Berkeley, ich hätte wohl viel Bill Evans gehört. Und ich fragte zurück: Bill, wer?
ZEIT:
Und wann waren Sie sicher, Ihren eigenen Klang gefunden zu haben?
JARRETT:
Gegen Ende der sechziger Jahre trat ich in Brüssel auf, mit dem französischen Schlagzeuger Aldo Romano. Zwischen dem ersten und zweiten Set hatte ich eine Art Erleuchtung. Ich weiß noch, wie ich zu mir sagte: Es ist vorbei, du musst nicht mehr nach deinem Klang suchen, geh raus und spiele ... und das war's. Beim letzten Schritt wirfst du alles ab. Was übrig bleibt, das bist du - in jeder Beziehung.
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ZEIT:
Das "Jahrhundert des Jazz" geht zu Ende, und die Nachrufe häufen sich. Sie als den weltweit populärsten lebenden Jazzmusiker gefragt: Sehen Sie einen Musiker, der Sie hoffen lässt?
JARRETT:
Nein, im Moment nicht. Ich neige dazu, bei diesem Thema philosophisch zu werden. Es ist unmöglich, die Musik frisch und gesund zu erhalten, wenn die Welt auf so vielen Ebenen zerstört wird. Junge Musiker hören zu viel Musik, sie halten den Ersatz für das Original, können nicht zwischen gut und schlecht unterscheiden. Wenn es darum geht, berühmt zu werden, braucht man nur einen Manager, der einem sagt, was man tun und lassen muss. Das ist alles. Als ich nach New York kam, hatte ich keinen Job. Aber ich wollte auch keinen, solange er nicht etwas mit wirklicher Musik zu tun hatte. Ich hätte auf Hochzeiten spielen können, ich kannte die Songs, es war kein Problem ... Als ich schließlich meine ersten Platten aufgenommen hatte, verschaffte mir mein erster Manager George Avakian ein Engagement in einem Club in Cincinnati. Er beschrieb mir den Club und ich sagte: "Nein." Ich kenne viele berühmte Künstler, die nicht nein sagen können. Wenn dir jemand sagt, du müsstest zu einer bestimmten Fotosession bestimmte Kleider anziehen, kann man nein sagen. Ganz einfach. Man muss sich nur daran erinnern, wozu man da ist. Ich bin nicht da, um bestimmte Kleidungsstücke zu tragen, sondern um Musik zu spielen.
ZEIT:
Waren Sie nie in der Situation, sich unter Wert verkaufen zu müssen?
JARRETT:
Natürlich trifft man als junger Musiker Arschgeigen, die nichts von Musik verstehen und keine Ahnung haben, was man macht. Als ich bei Columbia war, ging ich zum künstlerischen Leiter, er begrüßte mich: "Kommen Sie rein, Mr. Jarrett!" Wir setzten uns. Er sagt: "Na, was machen Sie denn?" - "Ich spiele Klavier", sagte ich. Darauf er: "Oh, wie schön!" Man kennt diese Leute nicht und weiß doch schon vorher, sie verkörpern genau den Typ, zu dem man nein sagen muss. Die idealen Menschen zum Neinsagen.
ZEIT:
Der Dirigent Sergiu Celibidache hat zu
Schallplatten und CDs grundsätzlich nein gesagt. Welche Bedeutung haben Aufnahmen für Sie?
JARRETT:
Verglichen mit dem, was man im Konzert spielt, sind sie wie Postkarten. Musik, die live im Raum entsteht, lässt sich durch nichts ersetzen. Aber gegenüber der klassischen Musik gibt es im Jazz doch einen Unterschied. Würden wir uns nicht eine Aufnahme wünschen, auf der Bach improvisiert? Der Moment des Improvisierens wird sich nie wiederholen. Das heißt, den Bereich der improvisierten Musik kann man kaum mit der Problematik notierter Musik vergleichen. Mozarts Klavierkonzerte sind dafür ein gutes Beispiel. Beim Spielen geben sie dem Pianisten alles. Aber wenn man nachträglich zuhört, lässt sich nur schwer sagen, was der Pianist für sich gewinnt, es sei denn, er übertreibt bestimmte Phrasen oder wählt bestimmte stilistische Eigenheiten, die den Eindruck vermitteln, man ahne, worum es geht.
ZEIT:
Ihre Aufnahmen mit klassischer Musik sind nicht unumstritten. Viele werfen Ihnen vor, sich zu sehr zurückzunehmen.
JARRETT:
Es ist nicht so, dass ich Mozart oder Bach nicht gerne getroffen hätte, aber als Improvisator geht es mir mehr darum, mich der Musik zu geben, als dass sich die Musik mir ergibt. Das bedeutet keine blinde Verehrung, aber man sollte kein größeres Instrumentarium mitbringen als nötig. Es wäre schön, wenn Mozart reinkäme und sagen würde: "Das ist gut, Sie haben das nicht übertrieben. Das ist in Ordnung." Ich will nicht, dass er sagt: "Genauso hatte ich mir das vorgestellt!" Keiner ist dazu fähig - nur Mozart. Wenn er heute lebte, würde er ohnehin Jazz spielen.
ZEIT:
Musiker und Kritiker haben immer wieder verkündet, dass das Ende einer gewissen Form der Kunst bevorstehe. Meistens haben sie sich getäuscht. Gibt es jetzt mehr Grund zum Pessimismus?
JARRETT:
Ich denke, die Qualitätmaßstäbe sind ständig gesunken, sie orientieren sich mehr am Markt als an dem Wert des Produkts. Das Bedürfnis lässt sich über die Werbung steuern, deshalb kann man die Qualität senken. Da wir in einer Welt leben, die so erfolgreich für sich selbst Reklame macht, brauchen wir auch keine Qualitätsprodukte mehr: Die Welt wirbt nur noch für sich selbst.
ZEIT:
Was Sie sagen, klingt ziemlich pessimistisch.
JARRETT:
Durch meine Krankheit bekam ich eine Vorstellung davon, wie bedeutungslos Musik eigentlich ist. Ich kann also mit Recht sagen, es ist nicht wichtig, ob sie an ihrem Ende angelangt ist. Musik ist da. Schön, wenn es damit weitergeht. Wenn nicht, dann nicht. Man kann sie nicht herbeizwingen. Das wäre unnatürlich. In gewisser Weise gibt es keine Zukunft, gab es nie eine Zukunft. Ich kann mir vorstellen, dass jemand nach Charlie Parker sagte: Wer kann jetzt noch wagen, Saxophon zu spielen? Und auf eine bestimmte Art hatte der Mann Recht. Vieles hat sich verändert: Heute sind die Musiker clean. Sie nehmen keine Drogen mehr. Haben eine sehr vernünftige Einstellung zu ihrem Leben und ihrer Musik gefunden, haben sich - zu sehr - unter Kontrolle. Doch in der Musik geht es vor allem um Ekstase. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, Sie hätten mich nach der Zukunft der Ekstase gefragt. Unsere Welt, die einmal in Weltanschauungen zerfiel, wird innerhalb der Industriestaaten immer gleichförmiger, warum sollte es mit der Musik anders sein?
ZEIT:
Wie sehen Sie denn Ihre eigene Musik in dieser Welt?
JARRETT:
Ich habe mir schon oft vorgestellt, nie wieder zu spielen. Es war okay. Jetzt wäre die Zeit für John Cage gekommen. Die Bühne betreten, den Flügel von der Bühne schieben, sich verneigen und sagen: Vielen Dank.
ZEIT:
Gibt es keinen Hoffnungsschimmer?
JARRETT:
Es gibt wunderbare afrikanische Musik, großartige indische Musik, kubanische Musik, die aber jetzt zum Produkt geworden ist, das plötzlich jeder schon immer kannte. Aber im Jazz? Der Tenorsaxophonist Branford Marsalis, der bedeutend talentierter ist als sein Bruder Wynton, sollte mit seiner Band für die Tonight Show verpflichtet werden. Hier in den USA wurde das groß gehandelt: Endlich hat es der Jazz im Fernsehen geschafft. Ich schrieb dazu einen Artikel, in dem ich das Ganze in Frage stellte. Wie kann so etwas gut für den Jazz sein? Zwischen Werbeblöcken eine Minute spielen und dann - stopp! Man sollte die jungen Musiker vor den Medien retten.
ZEIT:
Von vielen Kritikern - auch denen, die Ihre Musik lieben - wird oft Ihr unnahbares und gottähnliches Selbstbewusstsein kritisiert. Können Sie das nachvollziehen?
JARRETT:
Ich muss einräumen, dass ich den einen oder anderen spirituellen Pfad beschritten habe ... vielleicht liegt es daran. Zum anderen: Ich sage, wenn etwas gut ist - auch wenn es von mir stammt. Außerdem schrieb ich in den Plattentexten etwas über Gott ... und das macht die Menschen immer nervös. In den USA ist es einfacher, da liest keiner die liner notes. Kein Mensch fragt mich hier, was dieses oder jenes Gedicht bedeutet. Oder warum ich Rilke auswählte. Oder Bly. Man weiß hier nicht einmal, dass er Amerikaner ist.
ZEIT:
Meint das You im Titel Ihrer neuen CD mehr Ihre Frau oder den Flügel?
JARRETT:
Es meint beide. Meine erste Platte für ECM hieß ja auch Facing You. Es ist ein koffeinfreies Album, man sollte es nachts hören, es ist stressfrei. Im Konzert lässt sich diese Musik nicht wiederholen. Ich spielte diese Songs sehr sanft. Im Konzertsaal muss man die leisen Stellen viel lauter spielen, damit die Dynamik stimmt, und damit verändert sich sofort der Klang. Ich habe die Klaviertasten im Studio mit einem Minimum an Kraft angeschlagen, sodass selbst die lauten Töne nicht perkussiv klangen. Normalerweise haben die Tasten einen Druckpunkt, man muss ihn wie eine Oberflächenspannung überwinden, um die Taste nach unten zu drücken. Bei diesem Flügel fehlt der Widerstand, und so kann ich die Melodien ganz sanft und ausdrucksvoll spielen.
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ZEIT:
Wird es eine Fortsetzung von The Melody At Night, With You geben?
JARRETT:
Ich denke nicht. Vor etwa einem Monat ging ich wieder ins Studio und versuchte, diese ganz besondere Stimmung in meinem Kopf wiederzufinden, damit ich wieder so spielen konnte. Ich schaltete die Mikrofone ein - nichts. Ich fand dieses Gefühl nicht mehr. Diese Musik betraf eine sehr spezielle, kurze Zeit meines Lebens. Vielleicht muss das Wetter wieder schlechter werden. Kälter vielleicht, damit man gerne nach innen geht.
ZEIT:
Als Chet Baker 1988 in Amsterdam starb, war er im Hotel mit der Adresse Oklahoma City eingetragen. Er war zwar dort geboren, lebte aber nie dort. Gibt es in Ihrem Leben eine ähnliche home address?
JARRETT:
Hier im Nordosten, in New Jersey fühle ich mich zu Hause. Nicht im nahen Allentown, meiner Geburtsstadt, nicht im Nachbarort. Es ist die Landschaft. Aber es steckt noch mehr dahinter. Menschen, die dem Pfad folgen, auf dem ich mich befinde, sind dazu angehalten, sich ihrer selbst zu erinnern, der Essenz. Hinter den Verstand, den Gefühlen und Empfindungen jenen Platz zu finden und dort zu verweilen, während man seinen ganz normalen Alltag lebt. Es ist eine Art Meditation, die nur wenige mehr als zwei Sekunden schaffen. Aber selbst wenn es nur eine Sekunde gelingt - dort ist die wahre Heimat.
ZEIT:
Das klingt wieder sehr spirituell.
JARRETT:
Wahrscheinlich untermauert dies wieder mein gottähnliches Image. Ich glaube, ich schüchtere die Leute ein. Zuerst denken sie, es sei sehr schwierig, mit mir zu sprechen. Dann merken sie, dass das nicht stimmt. Dann glauben sie, ich hätte irgendwelche Geheimnisse, die ich nicht preisgeben möchte. Dabei habe ich nichts preiszugeben - außer meiner Musik.
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