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MusikLeben 8 – Colin Vallon

© JAZZ 'N' MORE Nr.5/2004


COLIN VALLON

Von Johannes Anders

Colin Vallon

"Seit ich Colin vor vier Jahren das erste Mal gehört habe, bin ich begeistert von seiner unerschöpflichen Abenteuerlust und Neugier, seiner souveränen und lustvollen Art, mit vollem Risiko hochsensibel zu interagieren. All das und seine reife Persönlichkeit lassen keinen Zweifel, dass wir einen grossen Musiker vor uns haben", stellt Jazzbassist und Musikerkollege Bänz Oester fest.

Colin Vallon, 1980 in Yverdon geboren, nimmt nach einer dreijährigen klassischen Ausbildung mit Vierzehn Musikstunden beim Jazzpianisten Marc Ueter. Mit achtzehn Jahren Eintritt in die Swiss Jazz School Bern. Seine Lehrer sind Silvano Bazan und später William Evans. 1999 gründet er das Colin Vallon Trio mit Lorenz Beyeler und Raphaël Pedroli, mit dem er regelmässig in der ganzen Schweiz und auch im Ausland auftritt. 2004 erscheint die CD "Les Ombres" auf Unit Records. Er gewinnt mehrere Auszeichnungen, so den Preis der Basler Friedl Wald-Stiftung 2002, den 3. Preis der Montreux Jazz Piano Solo Competition 2003 und im gleichen Jahr den 1. Preis des Nescafé-Wettbewerbs "Let’s Jazz Together". 2004 erhält er einen Kompositionauftrag von der Pro Helvetia und sein Trio war eine von drei selektionierten Gruppen für den "ZKB Jazzpreis 2004". Als Sideman spielt er unter anderem im Cyrille Bugnon Quartet, Sascha Schönhaus Express, Daniel Schläppi Dimensions … Auftritte bei mehreren Schweizer sowie Internationalen Festivals (Bern, Cully, Montreux, Langnau, Cannes, Dubai …).


HONEYSUCKLE ROSE (Fats Waller, comp. 1929):

1 .) FATS WALLER & HIS RHYTHM (1904-1943):

("Honeysuckle Rose", rec. 1929. FATS WALLER, p, Bill Coleman, tp, Gene Sedric, cl, ts, Al Casey, g, Billy Taylor Sr., b, Harry Dial, dr. 2CD-Sanctuary Records).

2.) EARL HINES (1903-1983):

("Piano Solos", rec. 1974. EARL HINES, p. RCA-LP).

3.) ERROLL GARNER TRIO (1921-1977):

(rec. 1951. ERROLL GARNER, p, John Simmons, b, Shadow Wilson, dr. Columbia-45EP).

4.) OSCAR PETERSON TRIO (*1925):

("at Zardis – Never Before Released!", rec. 1955. OSCAR PETERSON, p, Ray Brown, b, Herb Ellis, g. Pablo-2CD).

5.) SUN RA (1914-1993):

("St. Louis Blues Solo Piano", rec. 1977. SUN RA, p. IAI Records-LP).

6.) JEAN-MICHEL PILC TRIO (*1960):

("Together – Live at Sweet Basil", rec. 2000. JEAN-MICHEL PILC, p, François Moutin, b, Ari Hoenig, dr. A Records-CD).

CV: Das erste Beispiel war eine Orginalversion von Fats Waller. Sehr gut finde ich bei seinem Spiel den Witz und Humor, die melodischen Ideen und seinen kristallklaren Anschlag. Den zweiten Pianisten erkenne ich nicht, er erinnert mich etwas an Ray Charles. Schön sein dichtes Spiel und die vielen Ideen, die manchmal fast zu viel sind, aber ein sehr starker, orgineller Spieler. Nummer 3 war natürlich Erroll Garner. Er arrangiert seine Stücke immer sehr klug, hat klare Ideen, arbeitet extrem mit melodischer Motivik und hat überhaupt einen unglaublichen melodischen Sinn. Und alles hat bei ihm einen wahnsinnigen Swing. Dann in 4 das Oscar Peterson Trio mit Herb Ellis und Ray Brown; was soll man da noch sagen … Grossartig die Linien, der Swing, seine Technik. Diese Art Piano-Trio, wo also der Gitarrist auch als Schlagzeuger fungiert, gefällt mir besonders. Peterson ist ja auch ein hervorragender Begleiter, zum Beispiel bei den "Ella & Louis"-Aufnahmen: er spielt viele Noten und Linien, aber es tönt nie nach overplay … Was mich beim fünften Beispiel sehr beeindruckt ist, wie er dieses eigentlich fröhliche Stück mit dunklen Klängen grundiert. Faszinierend die dabei entstehenden Kontraste zwischen diesen finsteren, modernen, mit abstraktem Spiel erzeugten Klängen und den traditionellen bis zum Stride-Piano zurückreichenden Bezügen. Das ist jemand, der weiss, was er macht, der Klangmöglichkeiten dramaturgisch bewusst einsetzt. Und zum Schluss in 6 spielte ganz klar das Jean-Michel Pilc Trio. Ich habe das Trio mehrmals in New York gehört. Die Aufnahmen dieser CD, die ich auch habe, gefallen mir besser, als seine Live-Auftritte, wo er die Tendenz hat, viel zu viel zu spielen, was dann überladen wirkt. Aber er ist ein sehr witziger Typ, auch in seinem Spiel und die Rhythmusgruppe agiert phantastisch.


KEITH JARRETT TRIO (*1945):

MOVING SOON ("Somewhere Before", rec. 1968. KEITH JARRETT, p, Charlie Haden, b, Paul Motian, dr. Vortex-LP).

CV: Paul Motian am Schlagzeug und Charlie Haden am Bass? Am Anfang dachte ich zuerst an ein wildes Stück von Paul Bley, vom Klang und der Technik her … Aber dann kamen die typischen kurzen Schreie und da war klar, dass es Keith Jarrett ist. Diese wilde Seite von ihm gefällt mir sehr, er lässt sich hier völlig gehen im Gegensatz zu späteren Aufnahmen, wo alles kontrolliert ist. Irgendwo muss ich diese Platte finden! Ob es sie auf CD gibt ? Ich habe die andere Platte aus dieser Zeit – "Life Between the Exit Signs" – , wo er teilweise auch etwas wild spielt, aber nicht so stark wie hier (JA: … seine erste Trio-Platte ist ebenfalls auf Vortex).


CHICK COREA / DAVID HOLLAND / BARRY ALTSCHUL (*1941/*1946/*1943):

NEFERTITTI ("A.R.C", rec. 1971. CHICK COREA, p, D. Holland, b, B. Altschul, dr. ECM-LP).

CV: Chick Corea ! – mit Dave Holland und Barry Altschul. Die Intensität nimmt einem fast den Atem, jeder spielt extrem viel und bringt viele verschiedene Ideen ein. Es stört mich jedoch, dass es nur sehr wenig Raum gibt. Schön ist, dass es zuerst swingt, dann beginnt, sich zu öffnen und wilder zu werden; dass es bis zum Schluss hektisch bleibt, finde jedoch nicht so gut. Aber ich bin beeindruckt von Coreas Spiel, seiner grossen Kenntnis, seinen vielen Klangmöglichkeiten …; er hat wirklich eine eigene musikalische Sprache entwickelt. Ich bin allerdings kein grosser Fan von ihm. Wenn man weiss, wie Miles Davis das "Nefertitti" spielt, finde ich es schade, dass dieses schöne Thema hier kaum mehr zu erkennen ist. Dieses freie Spiel ist schon sehr wichtig und auch die dabei entstehende, unglaubliche Spannung, aber dass es bis zum Schluss keine Auflösung gibt …


CHARLES IVES (1874-1954):

"CONCORD, MASS., 1840-1860", SONATE FÜR KLAVIER NO. 2, 1909/10 ("CONCORD-SONATE", Auszug aus 2. Satz, rec. 1978. HERBERT HENCK, p. WERGO-LP).

CV: Sehr schön, vom musikalischen Ansatz her sehr abstrakt, aber es ist extrem konkret, erzählt eine Geschichte und man macht mit der Musik eine Reise; gefühlsmässig entsteht ein grosser Bogen - pianistisch unglaublich gespielt!


MAL WALDRON (1926-2002):

1 – 3 – 234 ("Free At Last", rec. 1969. MAL WALDRON, p, Isla Eckinger, b, Clarence Becton, dr. ECM-CD).

CV: Die Rhythm Section spielt straight ahead, während der Pianist das Tempo etwas auseinander zieht; an der thematischen Idee hält er jedoch sehr lange fest. (Nach Bekanntgabe:) Ah, das ist von der ersten ECM-Platte "Free At Last", von der ich viel gehört habe. Von Mal Waldron habe ich eine Duo-Platte mit Steve Lacy, kenne ihn aber ansonsten leider kaum.


FRÉDÉRIC CHOPIN / GRIGORY SOKOLOV (1810-1849 / *1950):

ETUDES OP: 25, NO. 12 ("Chopin France", rec. 1985. GRIGORY SOKOLOV, p. OPUS111-CD).

CV: Ist das Rachmaninow oder Chopin? So grandios! …, ist auch gut zum Schauen, was man auf dem Klavier alles machen kann, welche Möglichkeiten es gibt. Im Moment liebe ich Romantik sehr, kenne aber von Chopin nur eine Etüde aus dem Opus 10 (spielt einige Töne daraus auf dem Klavier). JA: Ist die Romantik für Dich eine Art Inspirationsquelle? CV: Ja natürlich.


BRAD MEHLDAU (*1970):

1.) PEACE ("Consenting Adults", rec. 1994. BRAD MEHLDAU, p, Mark Turner, ts. Crisscross-CD).

2.) AFTER GLOW (gleiche CD, rec. 1994. BRAD MEHLDAU, p, Larry Grenadier, b, Leon Parker, dr).

3.) LEE KONITZ (*1927):

ALL OF US ("Another Shade Of Blue", rec. 1997. BRAD MEHLDAU, p, Charlie Haden, b, Duo-Teil ohne Konitz. Blue Note-CD).

CV: Beim ersten Beispiel hat Mark Turner gespielt. JA: Woran hast Du ihn erkannt? CV: Am Sound und wie er hoch geht, aber auch an seinen Strukturen, seiner Harmonik … War der Pianist Brad Mehldau ? Unglaublich. Das Trio in Beispiel 2 erkenne ich nicht, vielleicht war es aber auch Mehldau ? Hörte da allerhand Herbie Hancock und Keith Jarrett … Beim dritten Beispiel habe ich ihn sofort erkannt, wird sicher auch eine spätere Aufnahme sein, mit deutlich perkussiverem Sound; Mehldau ist rhythmisch unglaublich genau. Die zwei ersten Aufnahmen fand ich mit ihrem romantischen Charakter sehr berührend. Früher spielte er mit mehr Romantik und Traditionsbezogenheit, heute ist er minimalistischer, gibt mehr Raum, spielt fast ohne Pedal und in den Balladen lässt er viel Platz.


JIMMY GIUFFRE 3 (*1921):

CARLA ("Emphasis, Stuttgart 1961". J. Giuffre, cl, PAUL BLEY, p, Stve Swallow, b. hatART-CD).

CV: Paul Bley, Steve Swallow, Jimmy Giuffre! - ein Blues, aber völlig verfremdet. Wunderbar, wie Giuffre das Paul-Bley-Solo begleitet, überhaupt ein unglaubliches Zusammenspiel und die verschiedenen Farben, mit denen Steve Swallow grundiert …


SIMON NABATOV (*1959):

FLOW CHART ("Perpetuum Immobile", rec. 2000. SIMON NABATOV, solo piano live. Leo Records-CD).

CV: Whow! - unglaubliche Technik, klingt am Anfang fast wie geschriebene Neue Musik. Interessant dabei, dass man trotz der Chromatik und den abstrakten Improvisationen doch ein bestimmtes, durchdachtes und unterscheidbares Konzept erkennen kann, obwohl es keine prägnanten rhythmischen oder melodischen Strukturen gibt. Erst gegen Ende kommen dann einige Blueslicks usw. (Nach Bekanntgabe:) Ich habe eine Duo-CD von Nabatov und Nils Wogram, wo man spürt, dass beide auch einen starken klassischen Background haben. Ich würde ihn gern einmal live hören.


HARRISON BIRTWISTLE (*1934):

EARTH DANCES – 1985/86 ("Theseus Game – Earth Dances**", Auszug, rec. 2001**. Ensemble Modern Orchestra, Pierre Boulez, Leitg. Universal-CD).

CV: (… ist etwas konsterniert:) Das erzeugt bei mir eine sehr starke Reaktion, ein Gefühl von grosser Unruhe, die mir den Atem verschlägt, mich fast abschnürt, mit dieser extremen Spannung fast überwältigt. JA: Birtwistle gilt als wichtigster zeitgenössischer Komponist Englands. Bei kaum einem anderen kommen die Spannungen zwischen Ordnung und Chaos so dramatisch zum Ausdruck wie bei ihm. Beim noch bis zum 18. September 2004 laufenden Lucerne Festival "Freiheit" ist er Composer-in-Residence". Unter den 17 aufgeführten Werken ist auch "Earth Dances" (Do., 16. September, 19.30 Uhr, KKL, Lucerne Festival Academy Orchestra unter Pierre Boulez).


MICHEL PETRUCCIANI (1962-1999):

MANHATTAN ("Marvellous", rec. 1994. MICHEL PETRUCCIANI, p, Dave Holland, b, Tony Williams, dr, Graffiti String Quartet. Dreyfus Jazz-CD).

CV: Das war Petrucciani mit einem Streichquartett, ein Spieler, der sich voll verausgabt, der "grosszügig" und mit riesiger Spielfreude alles investiert, Spontaneität, Sound, Energie und Brillianz, einer, der nie dunkel spielt. Aber es ist schwer, ein Streichquarett so in ein Jazztrio zu integrieren, dass es gut passt. Nicht alles auf dieser CD überzeugt in dieser Hinsicht.


WAYNE SHORTER + HERBIE HANCOCK (*1933/*1940):

DIANA (" 1 + 1 ", rec. 1997. W. Shorter, ss, HERBIE HANCOCK, p. Verve-CD).

CV: Shorter und Hancock! Es fährt mir jeweils gewaltig unter die Haut, wenn ich Wayner Shorter höre - diese melodischen Linien, das flüssige Spiel, diese Intensität auch bei ganz einfachen Melodien … Die beiden kennen sich schon seit langem und doch klingt das hier nie routiniert. Diese Aufnahmen sind ein Schmuckstück auf höchstem musikalischen Niveau, es "tötet" mich jedes Mal ...


JASON MORAN (*1975):

GANGSTERISM ON STAGES ("The Bandwagon", rec. 2002. JASON MORAN, p, Tarus Mateen, b, Nasheet Waits, dr. Blue Note-CD).

CV: Jason Moran mit "Gangsterism …", kannte ihn schon, bevor man in Europa auf ihn aufmerksam wurde. Ich schätze sein wildes, freies Spiel, bei dem trotzdem die Tradition spürbar bleibt. Er studierte ja bei Andrew Hill und Jaki Byard. Moran hat viel Sinn für Dramaturgie, allerdings sind ihm Energieströme wichtiger, als ein harmonisches Konzept. Nasheet Waits ist derzeit einer meiner Lieblingsdrummer.


FEIGENWINTER* / OESTER / PFAMMATTER (*1965):

AU PRIVAVE ("Because You Knew", rec. 2002. HANS FEIGENWINTER, p, B. Oester, b, N. Pfammatter, dr. EmArcy Universal-CD).

CV: Das ist Feigenwinter, habe die Aufnahmen bei Bänz schon lange vor der Veröffentlichung gehört. Unglaublich der Typ, hat wirklich eine eigene Sprache entwickelt, entfernt sich hier ziemlich von der Bebop-Sprache und den typischen Phrasen. Was er macht, ist sehr kreativ, auch wie er mit superschönem Bogen das Solo entwickelt. Und die kontrapunktischen Sachen mit der linken Hand wie das auch Brad Mehldau macht ... Die CD muss ich mir unbedingt kaufen, habe Hans Feigenwinters Spiel sehr sehr gern!


MARTHA ARGERICH (*1941) / SERGEI PROKOFIEV (1891-1953):

PIANO SONATA NO. 7 IN B FLAT, OP.83, 3. SATZ ("Live From The Concertgebouw 1978 & 1979", Martha Argerich, p. EMI Classics-CD).

CV: Super, wie das Rhythmische herausgearbeitet wurde, schön die Klangfarben, das ostinato-ähnliche Motiv, das fast hypnotisierend wirkt …

Colin, ganz herzlichen Dank für Deinen Besuch in Nürensdorf.




© JAZZ 'N' MORE Nr.5/2004
© Foto: Peewee Windmüller

 

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MusikLeben 7 - Berlin Atonal

»Die Idee war und ist, Wahrnehmung anders zu polen«

Text und Interview von Kristoffer Cornils mit Dimitri Hegemann und Adi Schröder über die Wiederbelebung des Festivals. – In: spex - Magazin für Popkultur, 25.7.2013

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Das ehemalige Heizkraftwerk an der Köpenicker Straße: Heimstätte des Berlin Atonal 2013

Dimitri Hegemann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Dabei wimmelt es um ihn herum nur so von Menschen, die Rechnungen vorbeibringen, seine Unterschrift brauchen oder einfach Hallo sagen möchten. Und da ist ja noch das Telefon. »Wenn was los ist, kennen mich wieder alle«, lacht er. Und es ist etwas los, denn Hegemann hat das von ihm 1982 initiierte Festival Berlin Atonal wieder zum Leben erweckt. Die wummernde Subbässe, die aus dem alten Heizkraftwerk, in dem seit geraumer Zeit auch der von Hegemann gegründete Tresor beheimatet ist, dringen, kündigen bereits an: Dieses Atonal wird ein anderes als das, welches nach 1990 nicht mehr weitergeführt wurde. Das liegt auch an dem Team, das Hegemann um sich geschart hat, den Australier Harry Glass, den Franzosen Paulo Reachi und Laurens von Oswald, Neffe des Dub Techno-Pioniers Moritz von Oswald. Sie sind jung, kommen aus der Techno-Szene. Das Atonal von 2013 ist nicht dasselbe wie vor gut 30 Jahren.
Neben audiovisuellen Installationen von jungen Künstlern und Musikern wie Grischa Lichtenberger und Dadub steht so unter anderem ein Showcase des Hype-Labels Blackest Ever Black und ein Abend mit den abseitigen Techno-Entwürfen von Actress, Kassem Mosse, Anstam sowie Francesco Tristano, der ständig auf dem Grat zwischen klassischer Komposition und elektronischen Sounds wandert, auf dem Programm. (Für letzteren Abend verlosen wir am Artikelende noch Plätze.) Sie treffen, neben Juan Atkins & Moritz von Oswald oder dem Glenn Branca Ensemble, auf Musiker wie Z’EV und Frieder Butzmann, die bereits bei den ersten Ausgaben des Festivals dabei waren.
Adi Schröder, der Hegemann damals wie heute bei der Konzeption des Atonal sowie beim nachfolgenden SPEX-Interview unterstützt, betont immer wieder die Parallelen zu dem Festival, das die Westberliner Subkultur um die Genialen Dilettanten einerseits repräsentierte, andererseits aber auch entschieden prägte. Das geschäftige Chaos, das in und vor den Räumlichkeiten in der Köpenicker Straße herrscht, scheint das nur zu bestätigen. 

Dimitrit Hegemann, warum haben Sie 1990 aufgehört? Passte das Konzept des Atonal nicht mehr in die Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre?
Dimitri Hegemann: Das letzte Festival 1990 im Künstlerhaus Bethanien war ein Brückenfestival. Danach ging es mit dem Tresor los. Die Mauer war gerade gefallen, wir mussten uns erst mal um die Weltrevolution Techno kümmern. Das war ein neues Tanzprogramm. In Westberlin hatte sich keiner bewegt, man stand da und staunte über die Sensationen auf der Bühne: Psychic TV, Test Dept. und Laibach. Und plötzlich bewegte man sich. Es gab eine Veränderung.

Und da passte das Atonal als Konzept nicht mehr rein?
Adi Schröder:  Wenn hinter dem Atonal die Idee stand, die Hör- und Sehgewohnheiten zu sprengen und die Wahrnehmung anders zu polen, dann war das, was anfangs im Tresor passierte, genau dasselbe, nur mit anderen Mitteln. Das ist nicht als Bruch zu verstehen. 

Bereits 1999 fand ein Wiederbelebungsversuchstatt.
DH: Das war ganz bizarr. Ein Freund, Michael Schäumer, sagte zu mir: »Lass doch mal das Atonal wiederbeleben.« Ich war damals nicht in Berlin. Kaum war ich zurück, war die Sache gelaufen. Es war eine Veranstaltung, die unter dem Namen lief, aber es fehlte die Liebe, das Engagement, der Spirit.
AS: Weil wir nicht dabei waren.
DH: Jetzt sind wir dabei und die neue Generation – Laurens, Harry und Paulo. Das Programm, das die zusammengestellt haben – das ich zum Teil gar nicht kenne – stellt einen Versuch dar, Brücken zu schlagen.

Der Rückbezug auf die Hochphase der Berliner Subkultur in den 1980er und -90er Jahren findet aktuell vermehrt statt. Bücher wie Klang der Familie, Die ersten Tage von Berlin und Wolfgang Müllers Subkultur Westberlin 1979-1989 nehmen sich intensiv des Themas an.
AS:
Wolfgang war einer der Genialen Dilletanten, er ist Atonalist der ersten Stunde. 

Interessant ist, dass Müller dementiert, mit seiner Band Die Tödliche Doris beim ersten Atonal im Jahr 1982 aufgetreten zu sein.
DH:
Das ist richtig. Im Programm stehen sie zwar drin, waren aber nicht dabei.
AS: Die Tödliche Doris ist ja eine konzeptionelle Band, die sich manchmal von anderen Leute auf der Bühne hat vertreten lassen. Die haben in der Abwesenheit ihre Präsenz demonstriert. 

Die Absage begründet Müller heute jedoch mit der Förderung des Atonals durch den Senat.
DH: Richtig, wir haben damals beim ersten Festival im SO36 ungefähr 20.000 DM erhalten.
AS: Derjenige, der in Berlin subventionierte, war Bernd Mehlitz, der sogenannte »Rock-Beauftragte« des Senats. Es gab ein paar Leute auf der anderen Seite, die uns geholfen haben. Heute sieht das ganz anders aus, alle lassen sich subventionieren und haben überhaupt kein Problem damit. Die Berührungsängste sind verschwunden. (Weiter nach der Fotografie.)

Adi Schröder über die Arbeiten am Raum: »Alles entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental.«
Adi Schröder über die Arbeiten am Raum: »Alles entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental.«

Werden Sie denn subventioniert?
DH:
Ja, vom Musicboard. Es ist aber trotzdem schwierig, sowas zu realisieren. Die Kosten sind enorm. Es gibt ja auch ähnliche Festivals – CTM oder MaerzMusik –  die wohl eher im sicheren Hafen sind als wir.
AS: Dimitris Risikobereitschaft und das, was an Subventionen kommt, steht in einem absoluten Missverhältnis. Du kannst dir nicht vorstellen, was der hat unternehmen müssen, um dieses Haus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
DH: Da kommst du mit 50€ nicht weiter, nimmt dich keiner. Wir haben so etwas, aber nicht in der Dimension dieses Festivals, und es ist sinnvoll, diesen Raum hier zu realisieren und nicht in der Peripherie. Es ist ein Ort, der prägt. In der Philharmonie hätte es nicht dieselbe Wirkung. Ich mag diesen aseptischen Kubus nicht. Ich mag lieber Räume, in denen alles noch möglich und denkbar ist. Ich glaube, dass das sehr, sehr wichtig für Berlin ist.
AS: Deswegen sagen wir auch: »Welcome Back Home«. Die Rückkehr ist eine Punktlandung. 

Sollten diese alternativen Veranstaltungen und Räume, die vom funktionalistischen White-Cube-Prinzip abweichen, intensiver gefördert werden?
DH:
Grundsätzlich ja. Aber es kommt darauf an, wer dahinter sitzt, wie lange und wie ernsthaft derjenige das schon macht. Ich will kein Geld sehen, ich will nur, dass man sagt: »Was habt ihr vor und können wir euch bei eurer Entfluchtungssituation helfen?« Wir würden es schaffen, wenn diese baulichen Geschichten und der Brandschutz durch günstige Kredite erleichtert würden. Die können sich auf uns verlassen, wir machen das schon seit dreißig Jahren! Gerade führe ich eine Feldforschung in Schwedt an der Oder durch und meine Erkenntnis ist rückblickend, dass die Balance einer Stadt zwischen etablierter und Gegenkultur gegeben sein muss. Meine Erfahrung ist jedoch, dass viele Entscheidungsträger realitätsfern sind. Es mangelt an Zugeständnissen. So aber kommt es zur Abwanderung und alle gehen nach Berlin und der Mainstream übernimmt das Programm. Deswegen brauchen wir solche Kräfte und die müssen unterstützt und verstanden werden, sodass eine kulturelle Vielfalt selbst in Provinzstädten gegeben ist.

Zurück in Berlin: Die Möglichkeiten, die es gerade in den 90ern gab – Schlüssel besorgen, mal reinschauen und einen Club daraus machen – sind aber nicht mehr gegeben.
DH: So einfach war das auch nicht. Man hat viel Engagement und eine gewisse Frechheit gehabt, es war aber nicht so, als hätten alle Türen offen gestanden. Wir haben nachgefragt und dann Verträge abgeschlossen, Genehmigungen eingeholt und hatten Probleme mit den Ämtern. Berlin hat auch nach zwanzig Jahren noch Vorteile: der bezahlbare Raum und der Geist, der in der Stadt ist. Wir wachsen zu schnell wachsen. Die Überdosis an Kreativität könnte dazu führen, dass es kippt. Deshalb müssten Stadt und Tourismusbörsen reagieren. Wir hatten letztes Jahr 25 Millionen registrierte Übernachtungen, jetzt wollen sie schnell auf 30 kommen. Was passiert dann? Dann kommen die modernen Raubritter, die gute Geschäftsideen haben und irgendwas bauen und – zack! –zieht zwar eine Quantität ein, die Qualität aber sinkt. Schau dir Detroit an, eine blühende Stadt, die zusammengebrochen ist. Das könnte hier auch passieren, wenn gewisse Faktoren wie zum Beispiel eine andere Gesetzgebung oder das Verschwinden von bestimmten Sehnsuchtsorten ins Spiel kommen, Fluglinien nicht mehr kommen. Dann könnte die Karawane weiterziehen. 

Verdrängt die von Ihnen angesprochene Kommerzialisierung die alternativen Konzepte?
DH:
Es mangelt zumindest an Wertschätzung. Das ändert sich nur langsam. Die Mittel aber sind da. Und die Kulturprogramme bewegen sich ja schon aufeinander zu, das Staatsballet tanzt mittlerweile im Berghain. Du musst eben Risiken eingehen. Ich merke das auch in der jungen Generation, die wünscht sich eine Alternative zum medialen Mainstream. Wir müssen tatsächlich eine Situation schaffen, wo das Atonal ganz anders wahrgenommen wird. Es geht nicht nur um die Musik, sondern auch um die Erfahrung, sich im Klang und der Architektur zu bewegen. Wir wollen Menschen zusammenzuführen, die diese Inspiration mitnehmen. Dazu kannst du nicht ins Rathaus von Oldenburg oder in eine Sparkassen-Vorhalle gehen.
AS: Das Atonal hat immer in ganz besonderen Räumen stattgefunden. Das SO36 war außergewöhnlich, weil es kahl, nackt und hart war. Andrew Unruh von den Einstürzenden Neubauten hat mit dem Bohrer durch die Wand gebohrt. Aber welche Löcher Dimitri hier in die Wand bohren musste, um den Rauch abzuleiten oder die Notausgange zu gewährleisten, das entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental. Das, was die Neubauten und andere damals mit dieser neuen Power bewegt haben, das findet wieder statt. Nur auf einer anderen Ebene. (Weiter nach der Fotografie.)

Juan Atkins & Moritz von Oswald
Juan Atkins & Moritz von Oswald

Das Festival steht unter dem Motto »Forming Space«, der auf zwei verschiedene Arten  gelesen werden kann. Der formende Raum einerseits, der Raum, der geformt wird, andererseits.
DH: Laurens, Harry und Paulo haben das so begründet, dass das es um die Schaffung von Raum in der Komposition wie auch im Denken geht. Die haben gefragt: Was gibt es noch? Wo gibt es eine Weiterentwicklung? Das Atonal 2013 zeigt Weiterentwicklungen im Techno. Wenn du beispielsweise das neue Album von Juan Atkins und Moritz von Oswald hörst – das ist eine neue Form von Dub.

Zentral scheinen auch die audiovisuellen Arbeiten, die einen großen Teil des Programms ausmachen.
AS:
Z’EV, der bereits beim ersten Atonal dabei war, nennt diese Verbindung zur visuellen Wahrnehmung »rhythmagic«. Es gibt eine unmittelbare Umsetzung von rhythmischen zu visuellen Gesichtspunkten. Das ist einer der Hauptaspekte des neuen Atonal.
DH: Frieder Butzmann hat eben den Soundcheck für seine Interpretation der Ursonate gemacht. Schwitters hatte einen Techno-Groove, den Vierviertel.
AS: Four-to-the-Floor!
DH: Oh! Oh! Oh! Oh! Alles in die Wörter gesetzt. In Blöcken, mathematisch aufgegliedert. Da waren ein paar Bauarbeiter, die das gut fanden. Das ist für mich Volksmusik! Wenn die Leute sagen: »Das ist großartig, machst du das noch mal?«.
AS: Wir wollen das Atonal drei Mal machen, dann kommt die Überführung an die Jugend. Wir bauen die Brücken zwischen den Generationen. Es werden Leute jeder Altersstufe vertreten sein, nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Bühne. Jon Hassell ist über siebzig und die jüngsten Künstler sind Anfang 20. 

Dabei werden Traditionslinien aufgedeckt. Acts wie Raime und Vatican Shadow docken an der Soundästhetik des Industrials an.
AS:
Industrial ist sicherlich eine Kontinuität. Es gibt auch eine Konstante, was Rhythmus, Beats und Metren betrifft. Die Beats der Einstürzenden Neubauten waren neu, anders. Nicht nur Rumgekloppe auf Blech. Wenn du dir nun Z’EV und Cut Hands anhörst, offenbaren sich Zusammenhänge. 

Der Schulterschluss mit der jüngeren Generation spiegelt sich ebenfalls im Rahmenprogramm wider. Christoph Drehers Dokumentation No Wave wird gezeigt, es finden Workshops statt. Ist es Ihr Anliegen, das Geschichtsbewusstsein Ihres Publikums schärfen, um dadurch neue Perspektiven zu eröffnen?
DH:
Genau. Die Gespräche mit Karl Lippegaus und Jon Hassell gehören beispielsweise auch dazu. Im Gespräch mit den jungen Beteiligten habe ich festgestellt: Die wollen das auch. Und die werden uns auch Dinge zeigen, die wir nicht kennen.
(Das Gespräch wird unterbrochen: Hegemann muss noch den Brandschutzbeauftragten verabschieden. Als er an den Tisch zurückkommt, klingelt wieder sein Handy. Alte Bekannte. Von denen würden sich momentan viele melden.) Zum Beispiel fragte mich auch Gudrun Gut, warum wir so wenige Frauen auf dem Festival haben.

Das ist in der Tat auffällig. Vier Frauen bei insgesamt 37 teilnehmenden Acts, die rein männlich besetzten Aftershow-Parties nicht mitgerechnet.
DH:
Aber es geht doch um Musik, nicht um politische Themen.

Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichte female:pressure eine Statistik, die den Frauenanteil in der elektronischen Musik, vor allem auf Festivals abbildet. Das hat eine rege Diskussion angestoßen.
DH: Bei uns sind sehr viele Frauen dabei, vor allem im Glenn-Branca-Ensemble. Ich habe das nicht so wahrgenommen. Es geht nicht darum, dass wir Quoten… Das ist ein politisches Thema, finde ich. 

Nichtsdestotrotz wäre das eine weitere Brücke, die es zu schlagen gilt.
AS:
Es ist nicht so, als hätten wir das ignoriert, aber in diesem atonalen Bereich sind sehr wenige Frauen zu finden.
DH: Gudrun sagte, da seien schon sehr viele. Sie hat mir viele Tipps gegeben. Aber da war das Booking schon durch.
AS: Da müssen wir in Zukunft einen geschärften Blick drauf werfen.
DH: Ich finde das eigentlich okay. Mir ging es vor allem um die Musik. Wir haben die Musik teilweise blind gehört und wussten nicht, wer dahintersteckt. Ich kam mir vor wie ein DJ, der in einem Plattenladen White Label nach White Label anhört. Vor allem wollte ich einen großen Berlin-Anteil dazu holen. Aber die meisten leben aber schon hier. Wer heutzutage aus Südfrankreich aufbricht, wird hier sicherlich Leute finden, die seine Vision teilen. Berlin ist ein Epizentrum der Kreativität. 

Nachfolgend das gesamte Tages- und Abendprogramm für Berlin Atonal 2013. Für den Dienstag mit u.a. Actress, Francesco Tristano, Kassem Mosse, Anstam verlost SPEX hier noch 3x2 Plätze. Weitere Informationen auf berlin-atonal.com.

Donnerstag, 25. Juli
ab 14 Uhr (und durchgehend während des gesamten Festivals): Installationen: ANTIVJ 3Destruct, Dadub & Grün ILYA Machine 001, David Letellier 3 Machines Oscillantes, Grischa Lichtenberger 3 Steel Plates, Scanner & Sound
ab 20 Uhr: Frieder Butzmann Ursonate (Kurt Schwitters), The Glenn Branca Ensemble presents Twisting In Space, Roly Porter, Paul Jebanasam, Lucy Benson & Marcel Weber, Eric Holm
ab 1 Uhr: The VUP Lounge hosted by Max Dax, Alec Empire, Mark Reeder, Daniel Jones & Gäste

Freitag, 26. Juli
ab 16 Uhr: Sam Auinger »Thinking with your Ears« (Lecture), Christoph Dreher No Wave (Screening)
ab 20 Uhr: Jon Hassell Quartet, Juan Atkins & Moritz von Oswald, Vladislav Delay, Kangding Ray, Dasha Rush & Schloss Mirabel
ab 1 Uhr: DJ Deep, Shifted, Neel, Eric Cloutier, Nail

Samstag 27. Juli
ab 17 Uhr: Jon Hassell & Karl Lippegaus »Conversation Pierce« (Multimedia-Unterhaltung), Electronic Beats im Gespräch mit William Bennett
ab 20 Uhr: Voices From The Lake, Murcof & Simon Geilfus, Dadub, Grün
ab 1 Uhr: Juan Atkins, Moritz von Oswald, Thomas Fehlmann, Exos

Sonntag, 28. Juli
ab 14 Uhr: Raime, Vatican Shadow, Cut Hands, Ancient Methods, Russell Haswell, Violetshaped, Rashad Becker, Grischa Lichtenberger, Samuel Kerridge, Positive Centre, Lower Order Ethics, Zan Lyons
ab 1 Uhr: Powell, Raime (DJ-Set), Will Bankhead, DJ Richard, Liberation Technologies DJs

Dienstag, 30. Juli
ab 17:30: »Hidden Music« (Sounddesign-Workshop mit Ben Lukas Boysen), »Avant-Garde versus Functional Music« (Diskussion mit u.a. Phillip Sollmann, Dimitri Hegemann)
ab 20 Uhr: Actress, Francesco Tristano, Kassem Mosse, Anstam

Mittwoch, 31. Juli:
ab 16 Uhr: Jan Thoben »Optophonetics«, Roc Jimenez de Cisneros & Stephen Sharp »Rave Synthesis«, Mariska de Groot »Lumisonic Rotera« (performative Installation)
ab 20 Uhr: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Jacaszek, Z'EV
ab 1 Uhr: Atonal Closing Party

Berlin Atonal 2013 Flyer

Quelle:
spex – Magazin für Popkultur, 25.7.2013


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